Mittwoch, 8. Mai 2013

30 Minuten in der Fußgängerzone



http://www.derwesten.de/img/incoming/crop7292928/3428503899-cImg0273_543-w656-h240/Reportage-ueber-den-Obdachlosen-Rene-656x240.jpg
Pappbecher ( Google)

Sie sitzt auf einer roten, zusammengefalteten Decke im Schutz eines Torbogens. Die Beine in einer schwarzen Jogginghose angewinkelt, die schwarzen, langen Haare zu einem Zopf gebunden. Sie trägt schwarze Turnschuhe mit pinken Schuhspitzen und ihr zierlicher Oberkörper steckt in einem dunkelblauen Kapuzenpulli. Sie ist nicht von hier. Aus Indien vielleicht. In ihren Händen hält sie einen Pappbecher, die Öffnung leicht in Richtung der vorbeigehenden Leute geneigt. Und es kommen Viele vorbei. Es ist Samstag. Einkaufstag. Die Einkaufstaschen prall gefüllt, strömen die Passanten in Scharen vorbei. Sie bleibt stumm. Nur ab und zu muss sie husten oder sich die Nase putzen. Doch sie weiß mit den Augen zu sprechen: flehend und zugleich unschuldig blickt sie den Leuten schon von weitem entgegen. Eine Frau bleibt stehen und gibt ihr Geld und das Mädchen bedankt sich. Es vergeht einige Zeit, sie wiegt ihren Oberkörper leicht hin und her. Verstohlen wirft sie einen Blick in den Becher und lässt unauffällig etwas Kleingeld in ihrer Socke verschwinden. Die Tauben gurren in der Turmspitze als sei nichts geschehen. Sie vergräbt ihre Hände in den Ärmeln ihres Pullis. Eine Nonne eilt vorbei ohne sie eines Blickes zu würdigen. Das Mädchen muss den Glauben an Barmherzigkeit schon längst verloren haben. Zwei Männer bleiben stehen und kramen einige Münzen aus ihren Taschen. Das leise Klirren der in den Becher fallenden Geldstücke verebbt ebenso rasch wie es gekommen ist. Die Kirchturmuhr schlägt zwölf. Eine trostlose halbe Stunde ist verstrichen.

Raja Kraus

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